Reaktionen auf die Qualitätsdebatte

(Leseprobe aus Hense, J. U. (2006). Selbstevaluation. Erfolgsfaktoren und Wirkungen eines Ansatzes zur selbstbestimmten Qualitätsentwicklung im schulischen Bereich. Frankfurt a. M.: Peter Lang. [Kapitel 2.3])

Das zunehmende Interesse an Qualität im Bildungswesen kann also als „semantische Begleitung" struktureller Veränderungen im Bildungssystem und der Gesamtgesellschaft verstanden werden (Kuper, 2002). Damit hat die Qualitätsdiskussion viele Ursachen auf unterschiedlichen Ebenen. Ebenso mannigfaltig sind die Reaktionen, die durch die Diskussion ausgelöst wurden bzw. parallel zu ihr zu beobachten sind. Die wichtigsten und häufigsten Antworten auf diese Fragen lassen sich unter den vier Schlagworten veränderte Steuerungskonzepte, Bildungsstandards, Professionalisierung und Evaluation zusammenfassen. Wie die folgende Diskussion der vier Reaktionstendenzen zeigt, bestehen auch hier deutliche Interdependenzen.

Veränderte Steuerungskonzepte

Im Bereich der öffentlich finanzierten Bildung stellte die Inputsteuerung lange Zeit das dominierende Steuerungskonzept in Schulen und Hochschulen dar (Müller-Böling, 1997; Rolff, 1996). Auf Systemebene wird dabei die Produktion von Qualität primär durch gesetzliche Vorgaben und Verordnungen, Lehrpläne und die Reglementierung der Lehreraus- und ﷓fortbildung geregelt. Auch auf Ebene der einzelnen pädagogischen Institution stand die Regulierung des Inputs lange im Vordergrund, indem sich das Hauptaugenmerk auf die Qualifikation und Auswahl von Lehrenden in Schule und Hochschule konzentrierte. Die zugrunde liegende Annahme dabei ist, dass Qualität sich dann einstellt, wenn sichergestellt wird, dass Lehrende zum Zeitpunkt der Einstellung gut ausgebildet und ausreichend qualifiziert sind. Prozess- und Produktmerkmale haben dagegen bei dieser Steuerungsphilosophie nur eine geringe Relevanz.

Nachdem sich die Inputsteuerung im deutschen Bildungswesen lange Zeit durchaus bewährt hat (Kuper, 2002; Marksthaler, 1999), sind als Reaktion auf die neuere Qualitätsdebatte Zweifel aufgekommen, ob diese bürokratische Steuerungsphilosophie veränderten Bedingungen noch gerecht werden kann (Steffens, 1999). Insbesondere ihre Inflexibilität und Trägheit sowie die Missbrauchsgefahr in Folge fehlender Kontrollmöglichkeiten spielten dabei eine Rolle (Müller-Böling, 1997; Posch & Altrichter, 1998). In der Folge kam es somit zu einer Öffnung des Bildungsbereichs für alternative Steuerungsmodelle und ﷓techniken, die sich sämtlich durch eine stärkere Betonung der Prozesse und Produkte von Bildungsmaßnahmen auszeichnen. Im Gegensatz zur reinen Inputsteuerung lautet dabei die Erwartung, dass Schwachstellen in der laufenden Arbeit schneller aufgedeckt und verbessert werden können und dass flexibler auf veränderte Rahmenbedingungen reagiert werden kann.

Zu den neuen Steuerungsverfahren gehören unter anderem übergreifende Konzepte und Ansätze aus den Bereichen Qualitätssicherung (Donabedian, 1996), Qualitätsmanagement (Beywl, 1994; Dubs, 1998; Greve & Pfeiffer, 2002) und Bildungscontrolling (Hense, Mandl & Schratzenstaller, 2005; Seeber, 2002) sowie eine Reihe weiterer Techniken und Verfahren wie etwa Qualitätszirkelarbeit (Blenck, 2000), Gütesiegel (Liebald, 1998), Benchmarking (Bessoth, 2000; Halfar & Lehnerer, 1997), Balanced Scorecards (Kaplan & Norton, 1992) oder die Normenreihe DIN EN ISO 9000-9004 (Wunder, 1995; Wuppertaler Kreis, 1996). Wie diese Aufzählung zeigt, gingen bei der Suche nach alternativen Steuerungsmodellen starke Impulse vom betrieblichen Bereich aus.

Eine Marktübersicht ausgearbeiteter Qualitätssicherungs- und Qualitätsmanagementsysteme für den Bildungsbereich von Gonon et al. (1998) zeigte bereits eine große Vielfalt. Die Ansätze unterscheiden sich teils erheblich in Faktoren wie der konkreten Zielsetzung, der konzeptionellen Fundierung, dem Grad der Standardisierung oder dem Vorgehen. Gleichzeitig liegen jenseits von Pilotprojekten bisher kaum Umsetzungsbeispiele in der Praxis vor. Dies kann auch auf eine starken Skepsis gegenüber betrieblich und marktwirtschaftlich orientierten Steuerungsphilosophien zurückgeführt werden, die insbesondere im schulischen Bereich verbreitet ist (vgl. Altrichter, 1999; Dubs, 1998). Daher wird gewöhnlich empfohlen, diese nicht unverändert zu übernehmen, sondern immer erst an die spezifischen Gegebenheiten des Bildungswesens und pädagogischer Institutionen anzupassen (Reinmann-Rothmeier, 2000; Schicke, 1997). Ohnehin erscheint aufgrund einiger unüberwindlicher, systembedingter Unterschiede von Marktwirtschaft und Bildungswesen die unkritische Übertragung der betriebswirtschaftlichen Logik auf Bildungsinstitutionen allgemein problematisch (vgl. Fend, 2000; Gonon et al., 1998).

Bildungsstandards

Die Diskussion von Bildungsstandards kann ebenfalls als Reaktion auf die neuere Qualitätsdebatte genannt werden. Bildungsstandards haben die Funktion, die Ziele pädagogischer Arbeit für einen bestimmten Geltungsbereich präzise und verständlich festzulegen. Dazu gehört, dass diese Ziele in Form von erwünschten Lernergebnissen der Lernenden explizit gemacht werden (OECD, 1989). Im Gegensatz zu klassischen Curricula wird also einerseits die unmittelbare Operationalisierbarkeit von Lernzielen angestrebt, während andererseits keine Vorgaben gemacht werden, wie und mit welchen Methoden diese zu erreichen sind. So kommt etwa der auf Standards umgestellte finnische Rahmenlehrplan für den grundbildenden Unterricht mit Anhängen auf nur 180 Seiten Umfang, wobei sämtliche Fächer der Klassenstufen 1 bis 9 abgedeckt werden. Als Finnland nach dem ersten „PISA-Schock" in der deutschen Bildungsdiskussion zum vielzitierten Vorbild wurde, war dies ein Sachverhalt, der viele deutsche Pädagogen offenbar sehr erstaunt hat (Kahl, 2004, 29. März).

Bildungsstandards nehmen im aktuellen Bildungsdiskurs eine doppelte Funktion ein (Klieme et al., 2003). Einerseits konkretisieren sie den Auftrag, den Bildungsinstitutionen zu erfüllen haben, und übernehmen damit curriculare Aufgaben. Andererseits stellen sie Kriterien und Maßstäbe zur Verfügung, anhand derer die Ergebnisse von Bildungsprozessen auf individueller und institutioneller Ebene bewertet werden können (Bessoth, 2000; Dubs, 1998). Damit steht die Entwicklung von Bildungsstandards in einem engen Zusammenhang mit der bereits diskutierten Veränderung von Steuerungsstrategien. Denn Verfahren der Prozess- und insbesondere Outputsteuerung sind darauf angewiesen, dass klar formulierte Zielvorgaben existieren, an denen Erfolge gemessen und Schwachstellen aufgedeckt werden können. Auch mit Prinzipien wie Dezentralisierung und Schulautonomie zeigen sich Kongruenzen, da die Entscheidungsbefugnis darüber, mit welchen Mitteln und auf welchem Wege Standards angestrebt werden, den verantwortlichen Akteuren vor Ort überlassen wird.

Professionalisierung

Ein drittes Thema, das im Kontext der Qualitätsdiskussion im Bildungswesen ein stärkeres Gewicht bekommen hat, ist die Frage der pädagogischen Professionalität bzw. Professionalisierung (Combe & Helsper, 1996; Darling-Hammond & Wise 1992; Lüders, 1998). Sie setzt bei den oben genannten Defiziten in den Prozessen der Bildungsproduktion auf zwei Ebenen an.

Auf unterrichtlicher Ebene geht es unter dem Schlagwort Professionalisierung primär darum, die Qualität der pädagogischen Interaktion durch geeignete Fortbildungsmaßnahmen bei Lehrkräften und anderen Lehrenden sicherzustellen (vgl. Avenarius et al., 2003). Darin ist kein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Qualifikation von Lehrkräften zu sehen. Vielmehr kann auch die Forderung nach einer kontinuierlichen und obligatorischen Fort- und Weiterbildung als Ausdruck einer Umorientierung der allgemeinen Steuerungsphilosophie verstanden werden.

Analog wird im Kontext der neueren Qualitätsdebatte auf der institutionellen Ebene des Schulmanagements mehr Professionalität gefordert. Da in der BRD die Leitung einer Schule oft als Nebentätigkeit zur pädagogischen Arbeit und ohne eigene Ausbildung ausgeübt werden muss, konzentriert sich auch hierbei die Aufmerksamkeit auf den Bereich der Fort- und Weiterbildung. Deren Bedeutung ist nicht zu unterschätzen, da damit zu rechnen ist, dass unter anderem im Zuge der wachsenden Autonomie von Einzelschulen die Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Schulleitungen sowohl quantitativ als auch qualitativ eher zu- als abnehmen werden (Bonsen, Iglhaut & Pfeiffer, 1999; Füssel, 1998; Höher & Rolff, 1996).

Evaluation

Als vierte wichtige Reaktionstendenz im Zuge der neueren Qualitätsdebatte kann schließlich die Wiederentdeckung der Evaluation und ihrer verschiedenen Varianten genannt werden. Sie steht dabei in enger Verbindung zu den drei zuvor genannten Trends:

Somit überrascht es nicht, dass Evaluation im Kontext der neueren Qualitätsdebatte einen zentralen Stellenwert einnimmt und dass Evaluation heute zu einem der wichtigsten Indikatoren von Bildungsqualität gerechnet wird (Europäische Kommission, 2001). Das folgende Kapitel wird den Begriff der Evaluation vertiefen und dazu auf wichtige Entwicklungslinien, Aufgaben, Ansätze und Problemfelder eingehen.

(Leseprobe aus Hense, J. U. (2006). Selbstevaluation. Erfolgsfaktoren und Wirkungen eines Ansatzes zur selbstbestimmten Qualitätsentwicklung im schulischen Bereich. Frankfurt a. M.: Peter Lang. [Kapitel 2.3])